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Naha-Te, Shuri-Te, Tomari-Te: Mythos oder Methode?

  • Autorenbild: Lizbeth Wischnewski
    Lizbeth Wischnewski
  • 15. Okt.
  • 6 Min. Lesezeit
Karte eines Rundwegs durch die drei ehemaligen Stadtkerne
Eine 2,5 Stunden Wanderung

Wenn Karateka über die Herkunft unserer Kata sprechen, fällt fast immer dieselbe Dreiteilung: Shuri-Te, die schnelle, leichte Schule. Naha-Te, die kräftige, atmungsbetonte Linie. Tomari-Te, ein Mittelding aus beidem. Diese Kategorisierung hat sich in Prüfungsordnungen, Büchern und Unterrichtslogik so stark verfestigt, dass sie wie ein unumstößliches Gesetz wirkt. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Sie ist weniger eine historische Tatsache als vielmehr eine didaktische Konstruktion.

Oft wird uns erklärt, das diese drei Gruppen sich, aufgrund der räumlichen Trennung, voneinander getrennt entwickelt haben. Wenn man bedenkt, dass eine Rundwanderung zwischen den historischen Zentren dieser Orte heutzutage ungefähr zweieinhalb Stunden dauert, dann sollten die ersten Fragen an dieser Erklärung aufkommen.

Funakoshis Klassifikationen in Naha-Te, Shuri-Te und Tomari-Te

Der Ursprung der heutigen Sichtweise liegt in den Schriften von Funakoshi Gichin, dem Begründer des Shōtōkan. Er prägte die Einteilung der Kata in zwei große Gruppen: Shōrin-Kata und Shōrei-Kata. Er verband diese mit den Regionen Shuri/Tomari (Shōrin) und Naha (Shōrei). Die Einteilung der Kata in diese Gruppen erwähnte er immer wieder in seinen Büchern, jedoch ist diese Einteilung über die Bücher hinweg nicht eindeutig.


  • Ryūkyū Kenpō Karate (1922)

    Hier nennt Funakoshi erstmals die Unterscheidung. Shōrin-Kata beschreibt er als leicht, schnell, agil. Shōrei-Kata seien kräftig, langsam und mit Atembetonung. Kata wie Bassai, Kankū und Kūsankū führt er bei Shōrin, während Seisan (Hangetsu) und Jitte bei Shōrei landen.

  • Rentan Goshin Karate Jutsu (1925)

    Die Kategorien bleiben bestehen, aber Funakoshi verschiebt einzelne Kata. Jion und Jitte erscheinen mal in der Shōrei-, mal in der Shōrin-Liste, obwohl sie technisch fast identisch sind.

  • Karate-dō Kyōhan (1935)

    In seinem Hauptwerk sortiert Funakoshi wieder: Jion, Jiin, Jitte als Shōrei-Kata; Bassai, Kankū, Enpi als Shōrin-Kata. Doch wer diese Kata kennt, weiß: Jion, Jiin und Jitte sind eng verwandt, haben dieselbe Struktur und Dynamik. Dass sie pauschal den "schweren" Shōrei-Kata zugerechnet werden, zeigt die Willkür dieser Einteilung.

  • Karate-dō Nyūmon (1943)

    Hier klingt Funakoshi bereits vorsichtiger. Die Zweiteilung sei hilfreich zur didaktischen Erklärung, nicht aber als historische Wahrheit zu verstehen.

Die Quellenlage zeigt also: Selbst Funakoshi ordnete dieselben Kata über die Jahre unterschiedlich ein. Von einer klaren Linie oder konsistenten Systematik kann keine Rede sein.

Moderne Sichtweisen auf die Dreiteilung

Rob Redmond

Der amerikanische Autor Rob Redmond (siehe: 24 Fighting Chickens) ging mit dieser Sicht in seinem Buch Kata: The Folk Dances of Shotokan hart ins Gericht. Er bezeichnete die Einteilung als Schwachsinn, nicht aus Respektlosigkeit, sondern weil sie sich sachlich nicht halten lässt.

Er argumentiert, dass, wenn drei nahezu identische Kata wie Jion, Jiin und Jitte in eine andere Schublade gesteckt werden als Bassai oder Kankū, dann offenbart das keine historische Trennung, sondern eine nachträgliche Vereinfachung. Die Kategorisierung sei ein pädagogisches Werkzeug Funakoshis, um Anfängern ein Raster zu geben, aber kein Abbild einer tatsächlichen stilistischen Dreiteilung auf Okinawa.

Patrick McCarthy

Der kanadische Forscher und Übersetzer Patrick McCarthy (The Bible of Karate: Bubishi, 1995) zeichnet ein anderes Bild. Für ihn ist Karate kein in sich abgeschlossenes System dreier "Städte-Stile", sondern das Produkt eines jahrhundertelangen Austausches.

Lehrer wie Kanryō Higaonna, Sōkon Matsumura oder Ankō Itosu reisten nach China, studierten verschiedene Quanfa-Systeme und adaptierten deren Inhalte. Auf Okinawa wurden diese Inhalte nicht isoliert weitergegeben, sondern laufend kombiniert, angepasst und untereinander ausgetauscht.

Die Kategorien Shuri-Te, Naha-Te und Tomari-Te seien deshalb eher nachträgliche Zuschreibungen der 1920er-Jahre. Zu dieser Zeit, wurde Karate in Japan institutionalisiert und man brauchte Ordnungsschemata, um Karate didaktisch zu erklären.

Henning Wittwer

Der deutsche Karate-Historiker Henning Wittwer (Karate: Training und Wissen, 2007) weist in seinen Quellenstudien darauf hin, dass die Begriffe Shuri-Te, Naha-Te und Tomari-Te erst im frühen 20. Jahrhundert auftauchten. Vorher gab es auf Okinawa keine einheitlichen Schulen, sondern individuelle Lehrsysteme einzelner Meister. Der Versuch, Kata nach Städten zu sortieren, sei ein anachronistisches Konstrukt, das der historischen Entwicklung nicht gerecht wird.

Iain Abernethy

Der britische Karate-Lehrer und Autor Iain Abernethy ist vor allem für seine Arbeit zu Kata-Bunkai bekannt. Sein Ansatz: Kata sind keine musealen Formen, sondern Sammlungen von Prinzipien und Techniken, die für Selbstverteidigung praktisch anwendbar bleiben müssen.

Zur Frage der Dreiteilung in Shuri-Te, Naha-Te und Tomari-Te hat Abernethy eine pragmatische Haltung: Er erkennt an, dass diese Begriffe im Karate-Kontext üblich sind, betont aber, dass sie nicht als starre Klassifikatoren verstanden werden dürfen. Ortsnamen wurden zur Unterscheidung herangezogen, aber das bedeutete nicht, dass es drei fest umrissene Stile mit klaren Grenzen gab.

Noch deutlicher wird sein Schwerpunkt in Bunkai-Jutsu: The Practical Application of Karate Kata (2002). Darin legt er dar, dass nicht die Einordnung einer Kata in Shuri-Te, Naha-Te oder Tomari-Te wichtig sei, sondern das "Warum" einer Bewegung. Kata müssten nach ihren Prinzipien, Anwendungen und Logiken gelesen werden, nicht nach historischen Etiketten, die oft unsicher oder widersprüchlich sind.

Seine Sicht deckt sich mit der Kritik von McCarthy und Wittwer: Auch Abernethy plädiert dafür, Kata nicht in künstliche Schubladen zu zwängen. Während er die gängigen Begriffe als Konvention anerkennt, liegt sein Fokus klar auf der Funktion; Technik statt Etikette.

Technische Widersprüche im Detail

Ein Blick in die Kata selbst macht die Schwächen der Dreiteilung greifbar:

  • Jion, Jiin, Jitte: identische Struktur, ähnliche Techniken und gleiche Kihon-Logik, diese werden zumeist in die "schwere" Shōrei-Te eingeordnet.

  • Hangetsu (Seisan): gilt als einzige Naha-Kata im Shōtōkan, wurde aber so stark japanisiert, dass die typische Atemarbeit fast verschwindet.

  • Bassai Dai vs. Bassai Shō: beide Shuri-Te-Kata, aber in Dynamik und Aufbau so verschieden, dass keine einheitliche "Stil-Handschrift" zu erkennen ist.

  • Kankū Dai (Kūsankū): Shuri-Te-Kata laut allgemeiner Lehrmeinung, enthält aber viele Techniken mit offenen Hände und Sprungelemente, die man typischerweise mit Tomari-Te verbindet.

  • Empi (Wanshū): Tomari-Kata, aber durchzogen von Standard-Kombinationen wie Age-Uke & Gyaku-Tsuki, die überall auftauchen.

Wenn die Unterteilung stimmen würde, müssten wir klare technische Marker finden. In Wirklichkeit aber sind die Übergänge fließend, dieselben Sequenzen finden sich in allen angeblichen "Stilrichtungen".

Mehr Mythos als Methode

Die Einteilung der Kata in Naha-Te, Shuri-Te und Tomari-Te ist eine nützliche Erzählung, aber kein historisch belastbares System. Sie entstand im frühen 20. Jahrhundert als didaktisches Hilfsmittel, nicht als Spiegel real existierender Schulen. Funakoshis widersprüchliche Zuordnungen, Redmonds harsche Kritik, McCarthys Betonung des Austauschs, Wittwers Quellenarbeit und Iain Abernethys Analysen führen alle zum selben Schluss:

Es gab keine drei isolierten Stile. Es gab Meister, Schüler, Austausch und ständige Veränderung.

Die Kata, die wir heute üben, sind daher weniger ein Mosaik klarer Schulen als ein Netz ineinander verwobener Ideen. Wer sie verstehen will, sollte den Mythos der Dreiteilung hinterfragen und sich auf das konzentrieren, was Kata wirklich lehren: Prinzipien von Bewegung, Strategie und Kampf, die keine Schubladen brauchen.

Übersichten

Die nachfolgenden Übersichten sollen die Problematik der oft eindeutig dargestellten Zuordnungen vereinfacht darstellen.

Zusammenfassung nach Gruppen

Shuri-Te (leicht, schnell, linear): Heian, Tekki, Bassai, Kankū, Sōchin, Nijūshiho, Gojūshiho.

Tomari-Te (Mischform, verspielter, viele „seltene“ Kata): Empi, Gankaku, Jion, Jiin, Jitte, Chinte, Meikyō, Wankan, Unsu.

Naha-Te (kräftig, Atem, Ganzkörperkraft): Hangetsu (einzige klare Vertreterin im Shōtōkan).


Übersicht Shōtōkan-Kata mit mutmaßlicher Herkunft

Heian-Kata (Pinan)

Heian Shodan - Godan (5 Kata) → Ursprung: Shuri-Te / Tomari-Te, entwickelt von Itosu Ankō aus älteren Kata (Kūsankū, Passai, Channan).


Tekki-Kata (Naihanchi)

Tekki Shodan - Sandan (3 Kata) → Shuri-Te (Itosu), teilweise auch Tomari-Te-Einflüsse, früher als eine einzige Kata („Naihanchi“) gelehrt.


Fortgeschrittene Kata

Bassai Dai & Bassai Shō → Shuri-Te (Einfluss von Itosu)

Kankū Dai & Kankū Shō → Shuri-Te (ursprünglich Kūsankū)

Empi (Wanshū) → Tomari-Te

Jion, Jiin, Jitte → stark diskutiert, meist Tomari-Te

Hangetsu (Seisan) → Naha-Te (Higaonna-Kanryō-Linie, Atemmethoden übernommen)

Gankaku (Chintō) → Tomari-Te

Chinte → Tomari-Te (starke chinesische Einflüsse, Charakter eher ungewöhnlich im Shōtōkan)

Meikyō (Rōhai) → Tomari-Te

Wankan → Tomari-Te

Nijūshiho (Niseishi/Neiseishi) → Shuri-Te / Tomari-Te, evtl. chinesischer Ursprung

Sōchin → Shuri-Te, evtl. mit Naha-Einflüssen (kräftige Stände, langsame und schnelle Bewegungen)

Unsu → Shuri-Te / Tomari-Te, möglicherweise über Aragaki Seishō eingeführt

Gojūshiho Dai & Gojūshiho Shō (alias Useishi) → Shuri-Te / Tomari-Te, Herkunft nicht eindeutig

Koryū no Kata (nicht überall unterrichtet) → Überreste alter Linien, teils aus Naha-Te, teils Mischformen.


Beispiele für problematische Zuordnungen

Jion, Jiin und Jitte

Von Funakoshi teils unterschiedlich einsortiert (Shorei vs. Shorin). Technisch nahezu identisch aufgebaut: alle drei beginnen mit Kamae in Hachiji-dachi, enthalten sehr ähnliche Sequenzen und nutzen denselben Rhythmus. Wie soll eine solche Serie unterschiedlichen "Stilen" angehören, wenn sie klar erkennbar aus einer gemeinsamen Quelle stammen?


Hangetsu (Seisan)

Im Shōtōkan oft als einzige Naha-Te-Kata bezeichnet.

Enthält Ansätze der Atemarbeit (ibuki-ähnlich) und halbmondförmige Schritte (Hangetsu-Dachi), wie man sie ähnlich aus dem Gōjū-Ryū kennt. Jedoch ist die Shōtōkan-Version ist stark japanisiert: weniger Atemübungen, mehr lineare Kraftbetonung, teils völlig andere Dynamik. Auch die Stellungen sind mit Hangetsu-Dachi deutlich betonter als diese es in Seisan mit Sanchin-Dachi sind.


Bassai Dai vs. Bassai Shō

Beide gelten als Shuri-Kata. Die Sequenzen sind jedoch komplett unterschiedlich: Bassai Dai mit starker Betonung auf Kraftdurchbruch (z.B.: Yama-Tsuki), Bassai Shō eher verspielt mit Sprungelement. Deutlich wird, dass es Interpretationen verschiedener Meister desselben Ursprungsmaterials sind, keine klar trennbaren „Stilrichtungen“.


Kankū Dai (Kūsankū)

Oft als typische Shuri-Te-Kata geführt. Sie enthält viele Elemente, die man auch in Tomari-Te-Kata findet (z. B. offene Handtechniken, Sprung mit Drehung, kreisförmige Blockbewegungen). Das zeigt, dass diese Merkmale nicht exklusiv einer Stilrichtung zugeschrieben werden können.


Empi (Wanshū)

Gilt als Tomari-Te-Kata, diese enthält klare Sequenzen, welche typisch für Shuri-Te-Kata sind. Auch hier ist keine reine Handschrift einer Schule erkennbar, sondern Mischform.


Sochin und Nijūshiho

Häufig Shuri-Te zugeordnet, zeigen beide Elemente, die man genauso gut in Naha-Te-Kata finden könnte: langsame Spannungsphasen, tiefe Stände, Betonung auf Ganzkörperspannung.

Diese Überschneidungen widersprechen der Vorstellung klarer Unterschiede.

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