Deine Stände im Karate: Je tiefer, desto besser?
- Lizbeth Wischnewski

- 12. Nov.
- 3 Min. Lesezeit

Warum Tiefe und Länge der Stände kein Qualitätsmerkmal ist.
Wenn ich an Stände denke, denke ich oft meine eigenen Trainingsstunden mit Shihan Abe Keigo: Er hat uns, gelegentlich ein Stück "nach oben" geholt, wenn Haltung und Schrittlänge die Bewegung eingrenzten. Das ist eine meiner Erinnerungen an seine Korrekturen im Dōjō. Wer Shihan Abe nicht kennt: Er gründete die JSKA, war Schüler von Nakayama und ist 2019 leider verstorben. Er war ein Trainer, der Präzision wollte, aber immer im Dienst der Bewegung, nicht der Pose.
Vor ein paar Tagenn war ich in meinem alten Dōjō trainiern und hatte ich wieder genau so eine Szene. Jemand bat mich um Feedback zu seiner Kata. Mein Hauptkritikpunkt waren die Stände und deren Übergänge. Das typischste Symptom überzogener Standtiefe war sofort da: Bevor es weitergehen konnte, mussten die Füße erst "zurechtgerückt" werden. Und jedes Nachsetzen, jedes Nachdrehen oder Nachziehen kostet Zeit, zerstört Timing und oft auch Struktur in Hüfte und Oberkörper. Die Folge ist eine kleine Kette von Kompensationen: verspätete Hüftarbeit, ein pendelnder Körperschwerpunkt, hektische Richtungswechsel. Kurz gesagt, es entstehen "schöne Standbilder", aber kein "guter Film".
Stabilität ist gut, bis sie zerstört
Tiefe und lange Stände geben kurzfristig Stabilität und können einzelne Techniken aufwerten. Aber Karate ist kein Stand-, sondern ein Bewegungssystem. Sobald Richtungswechsel oder Tempovariationen gefragt sind, werden überzogene Stände teuer: Schritte werden "zweitaktig", man muss diese erst korrigieren, um sich dann fortbewegen zu können, die Hüfte verliert ihren direkten Weg und Timing wird zum Gegner. Diese Wechselwirkung ist nichts Unbekanntes, sie ergibt sich schlicht aus Mechanik und Timing.
Stände sind Mittel zum Zweck
Eine Position, die Kombination aus Stand und Technik, ist immer eine Momentaufnahme. Sie ist dann gut, wenn sie im jeweiligen Augenblick Reichweite, Drucklinie, Schutz und Anschluss ermöglicht und sie ist vorbei, sobald deren Zweck erfüllt ist. Iain Abernethy bringt diese Funktionssicht seit Jahren auf den Punkt: Stände sind primär dafür da, Körpergewicht und Struktur in die Technik zu bringen; sie sind nicht die Technik selbst. Das klingt nüchtern, hilft aber enorm beim Korrigieren: Erst muss der Zweck erfüllt sein, dann darf die Form optimiert werden, nicht umgekehrt.
Was wird im Wettkampf wirklich bewertet
Auch aus Wettkampfsicht ist "tiefer ist besser" ein Mythos. In den aktuellen WKF-Kataregeln wird nach folgenden Kriterien bewertet: Stände, Techniken, Übergänge zwischen den Techniken, Timing, Atmung, Kime, Konformität zum Kihon sowie Stärke, Geschwindigkeit und Balance. Die Tiefe von Ständen existiert nicht als eigener Bewertungsmaßstab, es geht um Korrektheit und Funktion im Stilkontext, nicht um Extreme. Gewertet wird auf einer 5.0 bis 10.0 Punkteskala, höchster und niedrigster Wert werden gestrichen. Das unterstreicht: Entscheidend ist die Gesamtleistung. (siehe WKF Regeln)
Eine aktuelle sportwissenschaftliche Arbeit zur Kata-Bewertung bemerkt übrigens, dass Schwierigkeit und Übergangsbewegungen bislang nicht fein genug quantifiziert sind, noch ein Hinweis, dass sichtbare Tiefe nicht automatisch Qualität bedeutet, sondern dass es auf das Wie der Bewegung ankommt. (siehe Development of a reliable and valid kata performance analysis template)
Das schnellste Diagnosekriterium: Müssen die Füße "korrigiert" werden?
Wenn ich Stände beurteile, schaue ich zuerst auf dieses eine, ehrliche Signal: Kannst du dich aus deiner Position fortbewegen, drehen, beschleunigen oder musst Du die Füße erst setzen, bevor die eigentliche Bewegung startet? Wenn erst eine Korrektur nötig ist, damit die Bewegung starten kann, dann ist der Stand für diese Aufgabe meist zu tief oder zu lang. Korrigiere minimal nach oben und/oder verkürze den Stand, bis sich Übergänge wieder flüssig anfühlen. Der Gewinn zeigt sich unmittelbar: klarere Hüftarbeit, weniger Schaukeln des Schwerpunkts, sauberere Kime-Momente und wie von Magie passen auch Atem und Timing.
Karate ist Bewegung
Tiefe Stände sind ein Werkzeug, kein Qualitätsabzeichen. Qualität entsteht, wenn Haltung, Übergang und Technik eine Linie bilden, ohne unnötige Bewegungen, um Bewegung zu ermöglichen. Genau das meine ich, wenn ich heute jemanden ein wenig "nach oben" bitte: nicht gegen Präzision, sondern für Bewegungsfreiheit. Zu diesem Thema passt auch anderer Spruch, welchen ich gerne im Training nutze, um Bewegungen zu beschreiben: Du Größe Deiner Bewegung wird definiert durch "so viel wie nötig, so wenig wie möglich".


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